Prof. Dr. Jan Lazardzig: Theater archivieren. Drei Thesen zu einer zeitgemäßen Überlieferungsstrategie des theaterkulturellen Erbes
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
zunächst möchte ich den Initiatoren und Organisatoren dieses Workshops sehr herzlich dafür danken, dass sie dieses Forum für die (Berliner) Theaterarchive und Sammlungen geschaffen haben. Aufgrund der äußerst komplexen und zugleich prekären Überlieferungssituation in Berlin scheint eine gegenseitige Verständigung überaus dringlich. Als eine der weltweit wichtigsten Theatermetropolen (neben Städten wie etwa New York, London, Paris, Buenos Aires) verfügt Berlin bis heute über keine Strategie der Überlieferung seines theaterkulturellen Erbes. Angesichts der einzigartigen Vielfalt von Theatersprachen, von Stilen, von Genres, die in Berlin präsent sind, angesichts der stilprägenden und impulsgebenden Rolle Berlins als Theaterstadt ist dies erstaunlich. Angesichts der aktuell gefährdeten und unmittelbar von Verlust bedrohten Bestände ist dies ein Grund, zu handeln.
Die meisten unter Ihnen sind auf die eine oder andere Weise täglich mit Fragen des Sammelns und Archivierens im Bereich der Aufführungskünste – in Berlin oder anderswo – beschäftigt. Sei es im Archiv, sei es als Kuratorin oder Kurator von Ausstellungen in Museen und Sammlungen, sei es in der künstlerischen Praxis, in Produktion, Dramaturgie, Regie, sei es in der Lehre und Forschung an Theaterschulen, Hochschulen und Universitäten, sei es als Kritikerin oder Kritiker für Zeitungen/Zeitschriften, Radio, Fernsehen oder im Netz, sei es schließlich aufgrund von Verwaltungs- und Leitungsaufgaben etc. Dabei haben wir sicherlich verschiedene Vorstellungen davon, was ein Theaterarchiv jeweils bedeutet, welche Aufgaben ihm zuzuordnen sind und welcher Zweck dem Sammeln und Archivieren von ‚Theater’ eigentlich zukommt. Es scheint daher vielleicht sinnvoll, noch bevor ich mit der Vorstellung meiner Thesen beginne, zunächst meinen eigenen Zugang zum Thema Theaterarchive zu skizzieren. Als Theaterwissenschaftler und vor allem als Theaterhistoriker steht die wissenschaftliche Beschäftigung mit Archiven in Lehre und Forschung für mich im Vordergrund. Zunächst sind Archive für mich Orte der Forschung, in denen ich – zumeist ausgehend von einer bestimmten Fragestellung oder einem Erkenntnisinteresse – unbekannte Materialien sichte und zusammentrage. Orte, an denen ich Argumente finde und Thesen bilde oder verwerfe. Orte des Schreibens von und Nachdenkens über Theatergeschichte(n). Zumeist handelt es sich dabei gar nicht um genuine Theaterarchive, sondern um Stadt- oder Landesarchive, Archive von Universitäten, Literaturarchive, Archive der Künste mit entsprechenden theaterbezogenen Sammlungsbeständen. Den Geschmack des Archivs – um mit Arlette Farge zu sprechen1 - habe ich anlässlich meiner Forschungen zur Zensurgeschichte des Theaters entdeckt. Meine Studien haben mich in den letzten Jahren immer wieder tage- und wochenweise in die Landesarchive Wiens (bzw. St. Pöltens) und Berlins geführt mit den jeweils einzigartigen polizeilichen Sammlungsbeständen zum Theater des 19. und 20. Jahrhundert. Dort kann man feststellen, dass ein Großteil der dramatischen Produktion des 19. Jahrhunderts eigentlich nur aufgrund der polizeilichen Zensur, des staatlichen Überwachungsapparats und seinen Repositorien, seines langen Gedächtnisses heute noch verfügbar ist.
Eine weitere wichtige Archiv-Erfahrung sammelte ich an meiner letzten Wirkungsstätte, dem Department Theaterwetenschap der Universiteit van Amsterdam. Dort erlebte ich 2013 aus nächster Nähe die Schließung des niederländischen Theaterinstituts (Theaterinstituut Nederland, TIN), welches Museum, Archiv und Dokumentationszentrum vereinte und welches auf vielfältige Weise fest in die Produktionsroutinen der institutionellen Theater und freien Gruppen der Niederlande und Flanderns eingebunden war. Die Sammlungsbestände – sie gehören europaweit zu den umfangreichsten, vergleichbar den Sammlungen des Victoria & Albert Museums in London, des Wiener Theatermuseums oder den Kölner theaterhistorischen Sammlungen auf Schloß Wahn – gingen als Sondersammlungsbereich an die Universität von Amsterdam über. Sie sind damit de facto bis auf weiteres dem Produktionsprozess von Theater, Tanz, Performance entzogen (nicht zuletzt durch die radikale Reduktion der festangestellten Archivare). Nach Jahren des Schocks und der Trauer innerhalb der Theaterszene und der theateraffinen Öffentlichkeit angesichts einer durch neo-liberale Imperative bestimmten Kultur- und Wissenschaftspolitik, hat sich auf Initiative der freien Szene sowie der Theaterkritik (insbesondere seitens der Zeitschrift Theatermaker) in den letzten zwei Jahren in Amsterdam Widerstand formiert. Erklärtes Ziel ist es, einer allgemein und in zunehmendem Maße empfundenen Enthistorisierung von Theaterpraxis, einem historisch referenzlos agierenden Theatermachen, entgegenzuwirken, dem Theater – buchstäblich – ein Gedächtnis zu geben und es damit auch gegenüber einer unter Managementgesichtspunkten agierenden Kulturpolitik widerständiger zu machen.2 Also gewissermaßen mit den Mitteln des Archivs die Resilienz, die Abwehrkräfte zu stärken.
Eine meiner Aufgaben in der universitären Lehre in Amsterdam bestand darin, Studierende innerhalb eines auf 12 Monate angelegten, englischsprachigen Master-Programms Theatre Studies an die Arbeit mit Archivalien des vormaligen TIN heranzuführen. Während ich also selbst Niederländisch lernte und mich in die niederländische Theatergeschichte einarbeitete, versuchte ich, überwiegend ausländische Studierende (die selbst des Niederländischen oft nicht mächtig waren), für die Arbeit mit Archivalien (in niederländischer Sprache) zu begeistern. Beflügelt durch diese an sich unmögliche Aufgabe, begann ich mich intensiv mit Fragen der Archivtheorie sowie der praktischen Archivreflexion in den Künsten zu beschäftigen.3 Der zunächst individuell sich einstellende Eindruck, dass eine Krise des institutionellen Archivierens der Aufführungskünste mit einem exponentiellen Ansteigen des theoretischen Wissens über Archiv und Archivprozesse korreliert, hat sich seitdem verfestigt. Ein systematischer Zusammenhang von Archivkrise auf der einen Seite und dem Anwachsen von Archivwissen in den Künsten und Künstewissenschaften scheint mir unter den Bedingungen neo-liberaler Kulturpolitik plausibel. Institutionelle und individuelle Gedächtnisse stellen ja bekanntlich eines der Haupthindernisse entfesselter Managementfantasien dar. Und eine Partialisierung und Fragmentierung von Wissen arbeitet dem zu.
Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden drei Thesen zu einer zeitgemäßen archiv- und sammlungsbasierten Überlieferungsstrategie formulieren:
Meine erste These richtet sich auf die Spezifik von Theaterarchiven bzw. von Archiven der Aufführungskünste gegenüber anderen Formen des Archivs
Meine zweite These zielt auf die konzeptuell konservative Funktion des Archivs – nicht allein des Theaterarchivs.
Und meine dritte These zielt – im Sinne einer Synthese – auf die Bedingung kritischer Archive des Theater.
I. Eine Spezifik von Theaterarchiven liegt in ihrer dinglichen, materiellen und medialen Diversität
Ausnahmslos alle Studien, die in jüngerer Zeit zur Frage des Archivs der Aufführungskünste und zu Fragen des Archivs in den Aufführungskünsten erschienen sind, betonen die Besonderheit bzw. Spezifik gegenüber anderen werk- und objektbasierten Kunstformen. Die Flüchtigkeit, die Ephemeralität bzw. das Transitorische von Tanz, Theater und Performance (um nur einige der Aufführungskünste zu nennen) wird stets als ein ausschlaggebendes Charakteristikum der Aufführungskünste problematisiert. Dies bedeutet in der Konsequenz, dass Theatersammlungen und Theaterarchive (Tanzarchive) es häufig mit Überresten, Spuren von etwas zu tun haben, was unwiederbringlich verloren ist. Oder aber mit schriftlichen, visuellen, auditiven oder audio-visuellen Aufzeichnungen, die ein vergangenes Geschehen in einem anderen Medium bewahrt haben (auch Körperwissen). Jedes auf audio-visuellen Datenträgern basierende Archiv steht vor der Aufgabe, die Medien- und Abspieltechniken ebenfalls zu archivieren bzw. die Speicherinhalte auf neue Datenträger zu übertragen oder einem regelmäßigen Upgrade zu unterziehen. Dies ist natürlich nicht spezifisch für das Theater, hier aber in besonderem Maße virulent. In der Konsequenz haben wir es also bei der Archivierung von Theater im strengen Sinne nicht mit Theater zu tun, sondern mit den Überresten seiner Produktion oder der Übertragung in ein anderes Medium. Dies mag für den Außenstehenden wie Haarspalterei klingen, hat aber gravierende Konsequenzen. Sowohl für die konservatorische Arbeit der Archive und Sammlungen selbst, die benötigte Expertise, als auch für die Nutzerinnen und Nutzer, die praktisch, methodologisch und historiographisch mit ganz unterschiedlichen Materialitäten und Medialitäten umzugehen haben. Anhand der von Karl Sand für das Archiv des Deutschen Theaters in einem Beitrag für die Zeitschrift Der Archivar (Nov. 2016) vorgenommenen Bestandsschilderung wird die Vielfalt der Materialien und Medien in Theaterarchiven unmittelbar augenfällig:
„Zum einen“, so beschreibt er den Bestand des DT Archivs, „handelt es sich um Schriftgut im weitesten Sinn. Hier wären beispielsweise Rollen- und Regiebücher, Souffleusen- und Inspizientenbücher, Vorstellungsberichte, dramaturgische Textfassungen und Materialien, Programmhefte sowie Werbematerialien zu nennen. Ebenfalls finden sich Korrespondenzen mit Autoren oder Schauspielern, Auszeichnungen, Pressemappen, Personalakten, Kassenbücher und vertragliche Vereinbarungen. Zum anderen sind es Bilddokumente wie analoge und digitale Fotografien (Fotos von Proben und Vorstellungen, Portrait-Fotos, Foto-Alben), einige historische Gemälde, Druck- und Plakatgraphik, Kostümbild-Figurinen und technische Zeichnungen (Bühnenbild-, Bau- und Hauspläne). Von besonderer Bedeutung sind zudem die audiovisuellen Dokumente, die heute von Nutzerinnen und Nutzern bevorzugt nachgefragt werden. Hierzu gehören zunächst die betriebsinternen Audio-Aufzeichnungen, die teilweise bis in die 1950er Jahre zurückreichen, und die Video-Mitschnitte der Inszenierungen (umfassend seit 1990), Werbetrailer sowie bei den Video-Einrichtungen der Inszenierungen anfallender AV-Content. Darüber hinaus wären die dreidimensionalen Objekte zu erwähnen, die aber nur eingeschränkt gesammelt werden können. Hierzu zählen einige wenige Bühnenbildmodelle und exemplarische Requisiten sowie Musealien, die eine kleine Sammlung historisch wertvoller Büsten einschließt.“4
Zweifellos ließe sich diese eindrucksvolle Liste an Archivalien mit Blick auf andere Theaterarchive und Sammlungen erweitern. Wichtig für unseren Diskussionszusammenhang scheint mir weniger die möglichst vollständige Auflistung aller Materialien und Medien eines Theaterarchivs (ein unmögliches Unterfangen!) als vielmehr die Einsicht, dass wir es grundsätzlich mit einer Vielfalt von Materialien und Medien zu tun haben, die sich einer einheitlichen Betrachtung immer wieder entziehen. Es mag dies ein Grund dafür sein, dass Archive für die Aufführungskünste immer wieder durch das Raster der objekt-, material- und medienbasierten Klassifikationen der Archivübersichten fallen. Wie es etwa in einem neuen Handbuch zum Archiv der Fall ist, das zwar Literatur-, Sound- und Filmarchive kennt, Theater- , Performance oder Tanzarchive nicht erwähnt.5
II. Archive bewahren nicht allein Archivalien, sondern immer auch eine bestimmte Vorstellung, Idee oder Konzeption von ihrem Gegenstandsbereich
Meine zweite These bezieht sich nicht nur auf Theaterarchive. Theaterarchive scheinen mir aber im besonderen Maße von der konservativen Funktion des Archivs betroffen. Wichtig scheint mir hier, was Jacques Derrida in seiner bis heute sehr einflussreichen archivtheoretischen Studie Le mal d’archive (1995) als ein Fehlgehen, einen Defekt oder auch eine Krankheit des Archivs benennt.6 Der Titel dieses auf einem Vortrag im Freud Museum in London basierenden Essays ist schwer zu übersetzen, da le mal sowohl das Böse, das Fehlen (das Fehlgehen) als auch die Krankheit meint. Im Englischen hat sich der Übersetzer (Eric Prinowitz) mit dem wunderschönen Begriff „Archive Fever“ beholfen.7 Im Deutschen heißt der Essay „Dem Archiv verschrieben“. Ein solches Verschreiben bzw. Fehlgehen beschreibt Derrida anhand einer Verschiebung zwischen Ort und Ordnung (i.S.v. Gesetzmäßigkeit, Regelhaftigkeit) eines Archivs. Er selbst verwendet die Begriffe Nomos und Topos. Bevor es ein Archiv als Ort gibt, d.h. ein Haus oder einen Raum, der sich Archiv oder sagen wir: Theaterachiv nennt, muss bereits eine Festlegung getroffen worden sein, was eigentlich als Theater gilt. Dasjenige, was in das Theaterarchiv eingeht, wäre entsprechend einer Regel, einer Ordnung bzw. einer Gesetzmäßigkeit immer schon als ‚Theater’ präfiguriert. Diese Ordnung, die das Objekt konturiert, geht der Möglichkeit eines Archivs als Haus, als physischem Ort der Sammlung, immer schon voraus. Es kann kein Theaterachiv geben, ohne nicht eine bestimmte Idee dessen aufzurufen, was Theater in einer Zeit meint. Derrida geht weiter, in dem er feststellt, dass diese Ordnung bzw. Gesetzmäßigkeit, im Moment der Gründung eines Archivs, seiner Errichtung oder Verräumlichung gleichsam unsichtbar wird. Mit anderen Worten: In dem Moment, in dem ich ein Theaterarchiv besuche, in dessen Katalog recherchiere, dessen Findbücher ich verwende, frage ich nicht mehr nach, welche Vorstellung, Idee oder Konzeption von Theater dem Archiv zugrunde liegt. ---- Derrida beschreibt mit diesem Mechanismus die konservative Funktion des Archivs. Bewahrt wird – bleiben wir beim Beispiel des Theaterarchivs – nicht nur eine spezifische Gruppe von Archivalien, die einen Theaterbezug aufweist, sondern auch eine Vorstellung davon, was eigentlich Theater ist/sein soll. Durch diese Vorstellung oder Konzeption von Theater treten die Archivalien überhaupt erst als für Theater relevant in Erscheinung.
So finden sich Archivalien beispielsweise häufig um die Ordnungskategorie „Inszenierung“ gruppiert. Suchkriterien sind entsprechend zu-, bei- und untergeordnet. Die Einsicht in die spezifische Historizität des Dispositivs des Archivs kann hier eigentlich nur jenem banal erscheinen, der Theater immer schon als Inszenierung begreift und die potentielle Andersheit von Theaterkonzeptionen (Architektur, Spiel, Metapher, Körper, Maske etc.) allein als ein der Inszenierung untergeordneten Teilaspekt zu begreifen in der Lage ist. Ich kann hier erneut auf das Beispiel der auf polizeilichen Repositorien basierenden Theatersammlung im Landesarchiv verweisen. Eingang ins Archiv findet Theater als Drama, als Text, denn andernfalls wäre es nicht zensierbar. Zirkus- und Improvisationskünste fallen – anderes als noch im 18. Jahrhundert – nicht mehr ohne weiteres unter den Begriff Theater.
Führt man diese Beobachtung weiter, dann bedeutet es in der Konsequenz, dass jedes Archiv eine bestimmte Vorstellung von Theater impliziert (sei es über Archivordnungen, Katalogisierungen, Ablagesysteme etc.) die es – gleichsam stillschweigend – in sich bewahrt. Dies sollte, so mein Plädoyer nicht als ein zu beseitigendes Problem der Archive gesehen werden, sondern als jeweils spezifische Form der Historizität, die es offen zu thematisieren und problematisieren gilt.
III. Kritische Archive des Theaters sind Orte der (öffentlichen) Reflexion ihrer materiellen und medialen Diversität und ihrer theaterkonzeptuellen Historizität
Die Vielfalt der Berliner Tanz-, Performance und Theaterkulturen, bringt eine Diversität und Gleichzeitigkeit theatraler Sprachen hervor, die bemerkenswert ist. Zu der Vielfalt dieser theatralen Sprachen gehört ein Publikum, das diese Sprachen versteht und das bereit ist, aufgeschlossen ist, Tag für Tag neue Sprachen kennenzulernen. Das Lexikon dieser – natürlich auch historisch – vielfältigen Tanz-, Performance und Theatersprachen sind – ganz wesentlich - die Archive und Sammlungen der Stadt. Ein aktuelles Beispiel drängt sich auf: Wir alle stimmen wahrscheinlich darin überein, dass an der Volksbühne unter der Intendanz Frank Castorfs in den letzten Dekaden neue theatrale Ausdrucksweisen entstanden sind. Diese sind in unserer kollektiven Erinnerung präsent, in den Körpern der Schauspielerinnen und Schauspieler, sowie den Zeitschriften und Büchern des letzten Jahre. Wie schnell aber diese neu geschaffenen Sprachen und Ausdrucksweisen wieder verloren gehen, zeigt bereits der jeweils nächste Jahrgang von Studierenden an den Theaterschulen, Hochschulen und Universitäten. Hier können Überlieferungsstrategien ansetzen.
Eine unter Theatermacherinnen und Theatermachern häufig anzutreffende Aversion oder zumindest Skepsis gegenüber allen Bestrebungen einer Musealisierung / Archivierung von (eigener) Theaterkunst hat viel mit dem Selbstverständnis von Theater als kritischer Gegenwartskunst zu tun. Die bürgerliche Institution des Museums mit ihrem – historisch besehen bürgerlich-fetischisierendem Verhältnis zur Kunstproduktion – stellt gleichsam ein Anathema kritischer Gegenwartskunst dar. Gleiches gilt auch für Archive. Kritische Archive des Theaters – unter diesem Begriff möchte ich eine zeitgemäße Überlieferungsstrategie des theaterkulturellen Erbes provisorisch zusammenfassen, sollten daher auch keine Orte der Plastination und Fetischisierung von Relikten der Theater-, Tanz- und Performance Geschichte sein. Vielmehr ginge es darum, Orte zu schaffen und zu stärken, an denen die Diversität von Materialien und Medien der Theatergeschichte reflektiert wird, an denen über die Historizität von Theater nachgedacht wird, und zwar als Bedingung der Möglichkeit kritischer Gegenwartskunst.
Wollte man aus all dem Gesagten einen Imperativ für die Erhaltung und Entwicklung des theaterkulturellen Erbes Berlins ableiten, dann müsste dieser lauten: Die Komplexität der Überlieferungssituation anerkennen, die Diversität und entsprechende Expertise der Archive stärken, die Vernetzung und Zusammenarbeit der Archive und Sammlungen befördern, die jeweilige Historizität der Archive im Sinne einer pluralen Zukunft gegenwärtig halten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
1 Arlette Farge. Le goût de l'archive, Paris: Éd. du Seuil, 1997.
2 Theaterjaarboek Nederland 2016. Hg. v. Simon van de Berg et.al. Amsterdam 2017.
3Siehe beispielsweise: Diane Taylor. The archive and the repertoire. Performing cultural memory in the Americas. Duram, NC [etc.]: Duke University Press, 2003.Clarke, Paul: “Performing the Archive: The Future of the Past,” in: Borggreen, Gunhild, Rune Gade (eds.), Performing Archives / Archives of Performance, Copenhagen: Museum of Tusculanum Press, 2013, 363-385; Giannachi, Gabriella, Nick Kaye, Michael Shanks (eds.): Archaeologies of Presence. Art. Peformance and the Persistence of Being. London, New York, 2012; Jones, Amelia, Adrian Heathfield (eds.). Perform, Repeat, Record: Live Art in History, Bristol, Chicago: Intellect, 2012; Vaknin, Judy, Karyn Stuckey, Victoria Lane (eds.), All this Stuff. Archiving the Artist, Faringdon: Libri Publishing, 2013.
4Karl Sand, „Spuren des Unwiederholbaren. Das Archiv des Deutschen Theaters Berlin“, in: Der Archivar 4 (2016), S. 318-322.
5Marcel Lepper, Ulrich Raulff (Hrsg.), Handbuch Archiv : Geschichte, Aufgaben, Perspektiven. Darmstadt 2016.
6Jacques Derrida, Mal d'archive, Paris 1995, dt. Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997.
7Jacques Derrida, Archive Fever: A Freudian Impression, transl. by Eric Prenowitz, Diacritics 25.2 (1995).
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